Sektion 9: Lesen: Kompetenzen und Förderverfahren im Kontext von Teilhabe und Demokratiebildung
Moderator:innen: Steffen Gailberger (Bergische Universität Wuppertal), Anita Schilcher (Universität Regensburg)
Franz König Saal
Lesen ist Genuss, Voraussetzung für fachspezifisches Lernen, Bedingung im Umgang mit Fakten, Meinungen oder intentionalen Falschmeldungen – und somit Teilhabe. Das Bildungssystem ermöglicht jedoch nicht allen Kindern und Jugendlichen diese Teilhabe. Regelmäßig demonstrieren Studien wie PISA oder IGLU, dass Bildungserfolg eng mit dem sozioökonomischen und soziokulturellen Status der Eltern verknüpft ist. So zeigte bspw. die PISA-Sonderauswertung 2021, dass knapp die Hälfte der 15-Jährigen eben nicht zwischen Fakten und Meinungen unterscheiden kann. Was aber bedeutet das für die Demokratiebildung? Das Bildungswesen selbst reproduziert die soziale Ungerechtigkeit, zum Beispiel dadurch, dass die Mitarbeit der Eltern im Schulsystem strukturell vorausgesetzt wird, aber nicht von allen Vätern und Müttern geleistet werden kann (El-Mafaalani 2020, S. 83). Dies dürfte gerade auch beim Lesen eine entscheidende Rolle spielen, v.a. dann, wenn das „Lesen üben“ ins Elternhaus ausgelagert wird.
Doch auch die schulische Leseförderung hat noch Entwicklungsbedarf. Trotz großer Wertschätzung des Lesens ist die in den Leseunterricht investierte Zeit in den deutschsprachigen Ländern im europäischen Vergleich insgesamt eher gering (Stahns et al. 2017; Schmich et al. 2017). Obwohl wissenschaftliche Befunde zu Aspekten einer systematischen und nachhaltigen Leseförderung vorhanden sind, setzen Lehrkräfte nach wie vor auf traditionelle und etablierte Routinen und Handlungsweisen wie etwa das „Reihumlesen“ (Kraus, Wild, Schilcher & Hilbert i. V.), sodass Effekte gering, ggf. sogar ausbleiben. Selbst wenn Lehrkräfte wissen, welches Training wie eingesetzt werden könnte, werden langfristig etablierte Handlungsweisen zugunsten neuer, scheinbar erfolgsunsicherer Vorgehensweisen nicht aufgegeben (Philipp/Scherf 2012; Anmarkrud/Bråten 2012).
Die große – auch öffentliche und mediale – Aufmerksamkeit, die den Ergebnissen zum Lesen in den großen Large Scale-Studien zugemessen wird, zeigt, dass bereits der Platz im Ranking der Nationen eine politische Bedeutung hat, sagt er doch etwas über die zentrale Schlüsselkompetenz von Schüler:innen aus. Auch die longitudinalen Verlaufskurven, die zeigen, ob es einem Land gelingt, seine Bildungssystem – und darin die Leseförderung als Indikator – so aufzustellen, dass es zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung kommt, sind Ausweis für die Innovationskraft des Schulsystems und der Professionalität der Lehrkräfte. Dies erzeugt auf bildungspolitischer Seite Handlungsdruck, wie zahlreiche Leseinitiativen in den Ländern zeigen (vgl. z.B. die BISS-Initiative).
Auch in der Forschung zur Lesediagnostik und -förderung haben sich dadurch vielfältige Forschungsgebiete entwickelt: Das reicht von Studien, die sich mit der Erfassung und dem Aufbau basaler Kompetenzen wie der Leseflüssigkeit beschäftigen bis zum Erwerb von Strategien, die dem Analysieren von Fake News dienen, es schließt Fragen zu den individuellen Einflussfaktoren auf die Lesekompetenz (Arbeitsgedächtnis, Wortschatz, Leistungsmotivation) ebenso ein wie die Frage nach den Lesesozialisationsbedingungen in Familie, Gesellschaft und Schule und die Professionalisierung von Lehrkräften für ihre Aufgabe als Lesevermittler:innen. Der Themenbereich umspannt Altersstufen von der Vorschule, über Grund- und Sekundarschulen bis hin zur Universität.
Literaturverzeichnis:
Anmarkrud, Ø. & Bråten, I. (2012). Naturally-Occurring Comprehension Strategies Instruction in 9th-Grade Language Arts Classrooms. Scandinavian Journal of Educational Research, 56 (6), 591–623.
El-Mafaalani, A. (2020). Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln: Kiepenheuer&Witsch.
Kraus, E.; Wild, J.; Schilcher, A. & Hilbert, S. (i.V.). Reading Related Activities in Second Grade and Their Effect on Fluency. An Evaluation of Teachers’ Classroom Practices.
Philipp, M. & Scherf, D. (2012). Die zentrale Bedeutung der Lehrkraft für die Vermittlung selbstregulierten Lesens. In Maik Philipp & Anita Schilcher (Hrsg.), Selbstreguliertes Lesen. Ein Überblick über wirksame Förderansätze (226–242). Seelze: Kallmeyer.
Schmich, J.; Breit, S.; Lanzdorf, R. & Itzlinger-Bruneforth, U. (2017). Schulischer Kontext: Leseunterricht, Fortbildung und Schulressourcen. In Christina Wallner-Paschon, Ursula Itzlinger-Bruneforth & Claudia Schreiner (Hrsg.), PIRLS 2016. Die Lesekompetenz am Ende der Volksschule. Erste Ergebnisse (83–102). Graz: Leykam.
Stahns, R.; Rieser, S. & Lankes, E. (2017). Unterrichtsführung, Sozialklima und kognitive Aktivierung im Deutschunterricht in vierten Klassen. In Anke Hußmann, Heike Wendt, Wilfried Bos, Albert Bremerich-Vos, Daniel Kasper, Eva-Maria Lankes, Nele McElvany, Tobias C. Stubbe & Renate Valtin (Hrsg.), IGLU 2016. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich (251–278). Münster, New York: Waxmann.
Montag, 19.9.2022
10.15-10.30 | Einführung durch die Moderator:innen |
10.30-11.15 | Nadja Lindauer / Miriam Dittmar / Afra Sturm: Umsetzung und Eignung von Lautleseverfahren in Alphabetisierungskursen |
11.15-12.00 | Kathrin Hippmann / Simone Jambor-Fahlen: Leseflüssigkeit in der Primarstufe trainieren: Ergebnisse einer Interventions- und Implementationsstudie |
12.00-12.45 | Guido Nottbusch / Sabine Röttig: Die Entwicklung der Leseflüssigkeit von der zweiten bis zur sechsten Klassenstufe |
14.00-14.45 | Christopher Sappok / Markus Linnemann / Sabine Stephany: Die Entwicklung der Leseflüssigkeit von Klasse 3 bis 7 – Ergebnisse aus einer Längsschnittstudie |
14.45-15.30 | Anke Schmitz / Wiebke Dannecker: Lesen als Voraussetzung für schulischen Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe – eine Studie zum strategischen Umgang mit unterschiedlichen Textsorten |
15.30-15.45 | Bei Bedarf: Zusätzliche und abschließende Diskussion |
Dienstag, 20.9.2022
10.15-11.00 | Jörg Jost / Anke Schmitz / Fabiana Karstens / Elmar Souvignier: Leseförderkonzepte in den Deutschunterricht implementieren. – Ergebnisse einer Evaluationsstudie und resultierende Überlegungen zu bildungspolitisch sinnvollen Rahmensetzungen |
11.00 - 11.45 | Miriam Dittmar / Sandro Brändli / Muriel Frei / Aline Meili / Claudia Schmellentin: Unterstützung des Leseverstehens im Fach Geschichte (HistText) |
11.45-12.30 | Fabiana Karstens: (Differenzielle) Perspektive der Schüler:innen auf das selbstregulierte Lesen im Deutschunterricht und die Bedeutung lesebezogener Lernvoraussetzungen |
14.00-14.45 | Antonia Bachinger: Die Frage nach dem Warum im Leseunterricht? Lesedidaktische Überzeugungen von Volksschullehrer/innen |
14.45-15.30 | Jasmin Benz / Juliane Rutsch / Tobias Dörfler: Zur Entwicklung von lesedidaktischem Wissen bei angehenden Lehrkräften im Vorbereitungsdienst |
15.30-15.45 | Bei Bedarf: Zusätzliche und abschließende Diskussion |
Mittwoch, 21.9.2022
10.15-11.00 | Maik Philipp: Lesekompetenz 4.0?! Veränderungen im Konstrukt Lesekompetenz und ihre lesedidaktischen Folgen |
11.00-11.45 | Eva Bordin: Strategien zur Text-Bild-Integration in authentischen multimodalen Texten - eine Interventionsstudie zu einem hybriden Lernarrangement am Übergang in die gymnasiale Oberstufe |
11.45-12.30 | Michael Krelle / Claudia Griesmayr / Antonia Bachinger / Stephanie Renzl / Marcel Illetschko / Uwe Lorenz: Lesefertigkeiten testen in der iKMPLUS – Konstruktionsprinzipien und Pilotierungsergebnisse |
14.00-14.45 | Antonia Bachinger / Michael Krelle / Sarah Halsema / Marcel lletschko / Sandra Eibl: Zwischen Diagnostik und Förderung – Leseverstehen in der individuellen Kompetenzmessung PLUS |
14.45-15.30 | Anita Schilcher / Steffen Gailberger / Plenum: Abschlussdiskussion |
Abstracts der einzelnen Vorträge
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