Plenarvortrag 1: „Wer hat, dem wird gegeben“: Politische und soziale Ungleichheit als Herausforderungen politischer Bildung

Sabine Achour (FU Berlin)

Montag, 19.9.2022 9.00-9.45, Audimax

Seit Jahrzehnten belegt die politische Kulturforschung folgenden empirischen Zusammenhang:  Demokratiedistanz und Menschenfeindlichkeit auf der einen Seite mit (dem Zugang zu) formaler Bildung, Mitbestimmung und Gefühlen politischer Machtlosigkeit der Befragten auf der anderen Seite. Exemplarisch werden diese Zusammenhänge an den Daten der aktuellen Mitte-Studie „Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21“ erläutert, an welcher die Referentin mitgewirkt hatte.

Ein Blick in die Schule lässt schon erkennen, dass insbesondere sozio-kulturell weniger privilegierten Schüler:innen die Teilhabe an (politischer) Bildung und demokratiebildenden Formaten der Mitbestimmung weniger umfassend ermöglicht wird, so die zentralen Ergebnisse der bundesweiten Untersuchung „Wer hat, dem wird gegeben“ (Achour/Wagner 2019). Ausschlaggebend für diese politische Ungleichheit entlang der sozialen Ungleichheit ist auch die Gliederung des Schulsystems in gymnasiale und nicht-gymnasiale Schulformen, die von einer sozio-kulturell unterschiedlichen Schüler:innenschaft besucht wird. Abgesehen von den Unterstützungsmöglichkeiten des Elternhauses, stellen auch sprachliche Herausforderungen für politische Kommunikationsprozesse und Verstehen von politischen Fragestellungen eine wesentliche Rolle. Um Diskrepanzen entlang der Schulformen zu illustrieren, wird auf Videovignetten aus dem Politikunterricht zurückgegriffen, die im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung erstellt wurden und zum Aufbau des Videoportale FOCUS an der Freien Universität Berlin genutzt werden (Barth et al. 2020).

Nicht zuletzt kann das (Nicht-)Erleben von Selbstwirksamkeit in diesen Dimensionen politische Einstellungen und Gefühle von Machtlosigkeit beeinflussen.

Schule ist aber die zentrale (politische) Sozialisationsinstanz, mit der fast alle Kinder und Jugendlichen erreicht werden können, die (später) Demokratie und Gesellschaft gestalten werden. Wenn sie ihre Demokratisierungsfunktion erfüllen soll, darf sie politische Bildung und Demokratiebildung nicht sozial ungleich adressieren. Vielmehr muss sie diese als Instrumente gegen Gefühle von Machtlosigkeit, Demokratiedistanz und Menschenfeindlichkeit insbesondere dort zur Verfügung stellen, wo sie besonders gebraucht werden. 

Eine Sonderauswertung der bundesweiten Studie zu demokratiebildenden Formaten lässt darauf schließen, dass deren regelmäßiges und umfassendes Angebot signifikante Effekte auf das Demokratievertrauen, die Ablehnung von Menschenfeindlichkeit und Partizipation(sbereitschaft) von Schüler:innen haben kann (Achour 2021).

Literatur:

Achour, S. (2021): Demokratiebildung: Was ist das? - Politische Bildung, die sich lohnt! In: Achour, S./ Massing, P. (Hrsg.): Demokratiebildung.Frankfurt a.M.: Wochenschau Verlag. S.4-13.

Achour, S./Wagner, S. (2019). "Wer hat, dem wird gegeben." Politische Bildung an Schulen. Bestandsaufnahme, Rückschlüsse und Handlungsempfehlungen. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Barth, V. L.; Achour, S.; Haase, S.; Helbig, K.; Jordan, A.; Krüger, D.; Thiel, F. (2020): Mehr Unterrichtspraxis in die Lehramtsausbildung! Das FOCUS-Videoportal als digitales Lehr-Lern-Medium. In: Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 38 (2). S. 255–273.

Zick, A./ Küpper, B. (Hrsg.) (2021): Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Bonn: J.H.W.Dietz

Kontakt: achour@zedat.fu-berlin.de

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