Plenarvortrag 3: Teilhabe braucht Bildung, Bildung braucht Sprache – Bildungspolitische Herausforderungen für Schule und Hochschule

Claudia Schmellentin (Pädagogische Hochschule FHNW)

Mittwoch, 21.9.2022 9.00-9.45, Audimax

Zur Kernaufgabe schulischer Bildung gehört, die Lernenden zur Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation (u.a. Tenorth, 2004) im kulturellen, sozialen, privaten, beruflichen und (gesellschafts-)politischen Kontext zu befähigen und so die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Basis für gesellschaftliche Mitbestimmung ist die Beherrschung der Sprache. Oder, um mit Aleida Assmanns Worte zu sprechen: »Sprache ist das Medium, in dem Menschen ihre Welt, ihre Kultur und sich selbst erschaffen.« Die Systematisierung sprachlich-literaler Bildung gehört entsprechend zu einer der Kernaufgaben des Systems Schule. 

Schule selbst ist ebenfalls ein Ort, der sprachliche Teilhabe voraussetzt und im Kontext sprachbedingter Ungleichheit steht. Bildung ist wesentlich abhängig von der Möglichkeit, an schulischer Kommunikation teilzuhaben und diese mitzugestalten. Die internationalen Vergleichsstudien zeigen aber immer wieder, dass schulische Teilhabe immer noch allzu vielen Lernenden in ungenügendem Maße ermöglicht wird. Die enge Koppelung von Bildungserfolg, Sprachkompetenz und sozialer Herkunft löst bildungspolitischen Druck aus, was zu verschiedenen Initiativen zur Verbesserung sprachlicher Bildung führte. Gefordert wird unter anderem eine durchgängige Sprachbildung, bei der sprachliches Lernen sowohl horizontal über die Fachgrenzen als auch vertikal über die Bildungsstufen hinweg explizit und kohärent strukturiert wird (vgl. Schneider et al., 2012). Die breite und nachhaltige Implementierung entsprechender Konzepte erweist sich jedoch als äusserst komplex.

Im Referat wird diese Komplexität ausgehend von der Mehrdimensionalität von ausgewählten Konzepten, die eine durchgängige Sprachbildung zum Ziel haben, beleuchtet. Dabei wird argumentiert, dass Implementierungsversuche nicht nur etablierte Unterrichtspraktiken (Mikro-Ebene), sondern auch organisationale Strukturen an Schulen und Hochschulen (Meso-Ebene) und bildungspolitische Vorgaben wie Curricula (Makro-Ebene) in den Blick nehmen müssten, um wirksam zu sein (Fend 2008). Gefordert ist entsprechend das Bildungssystem als Ganzes, im Besonderen aber auch die Fachdidaktiken in Forschung, Entwicklung und Lehre.

Denn abhängig von verschiedenen Gegenständen und Denkmustern pflegen die Schulfächer und Bildungsetappen verschiedene literale Praktiken. Diese müssen einerseits empirisch erforscht, andererseits müssen auf dieser Grundlage didaktische Konzepte erarbeitet werden, die es ermöglichen, sprachbedingte Lehr-Lernprozesse bei allen Unterschieden kohärent zu modellieren. Nicht zuletzt müssen Lehrpersonen befähigt werden, diese Konzepte in fachübergreifender Zusammenarbeit so umzusetzen, dass alle Schüler*innen lernen, situationsadäquat mit sprachlichen Anforderungen umzugehen, um sich so an gesellschaftspolitischen Prozessen zu beteiligen.

Ein so verstandener Kernauftrag für Schulen erfordert auf Ebene der Lehrer*innenbildung einen disziplinenübergreifenden Diskurs über Sprache als Instrument zur Welterschliessung. Im Referat werden daher auch Thesen zu Auswirkungen des Diskurses auf das Fachverständnis der Fachdidaktiken und auf die institutionellen Strukturen der Lehrer*innenbildung diskutiert. 

Literatur:

Assmann, A. (2008). Einführung in die Kulturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt Verlag.

Fend, H. (2008). Neue Theorie der Schule. Das Bildungswesen als institutioneller Akteur der Menschenbildung. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Schneider, W.; Baumert, J.; Becker-Mrotzek, M. ; Hasselhorn, M.; Kammermeyer, G.; Rauschenbach, Th.; Roßbach, H.-G.; Roth, H.-J-; Rothweiler, M. & Stanat, P. (2012). Expertise «Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS)»: Bund-Länder-Initiative zur Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung. Verfügbar unter: www.biss-sprachbildung.de/ueber-biss/biss-expertise

Kontakt: claudia.schmellentin@fhnw.ch

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